Der Raum als dritter Pädagoge – neue pädagogische Raumkonzepte an Schulen
Loris Malaguzzi, der Begründer der Reggio-Pädagogik, beschrieb den Raum als dritten Pädagogen. Vielerorts ist dieser dritte Pädagoge allerdings noch nicht auf dem neuesten Stand der pädagogischen Entwicklung angekommen.
Was unterscheidet moderne Schularchitektur von den Schulbauten des letzten Jahrhunderts? Wie ergänzen sich pädagogische Konzepte mit modernen Raumkonzepten? Und wie sieht eine Schule aus, die neue pädagogische Raumkonzepte bereits mit Leben gefüllt hat? Darüber haben wir mit Stefan Ruppaner, dem Leiter der Alemannenschule Wutöschingen, gesprochen.
Das erfahren Sie in diesem Beitrag
Eine neue Pädagogik braucht neue Räume
Die Schularchitektur des letzten Jahrhunderts prägten sogenannte Flurschulen: Hier reihen sich Fach- und Klassenräume entlang von Fluren aneinander, die lediglich als Verkehrswege gedacht waren. Ideal für die damals vorherrschende Sozialform, dem Frontalunterricht.
Seither hat sich die Pädagogik weiterentwickelt. Die alten Schulhäuser passen nun nicht mehr zu den neuen Ansätzen und Methoden. Noch werden die meisten Schülerinnen und Schüler in den altbekannten Schulen unterrichtet. Wo die Brandschutzauflagen es erlauben, drängt der Lernraum aus den Klassenzimmern hinaus: Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sind immer häufiger auf den Fluren und anderen Freibereichen sowie den Außenflächen zu finden.
Es gibt aber auch Schulen, an denen neue pädagogische Raumkonzepte bereits in die Realität umgesetzt wurden. Die Alemannenschule in Wutöschingen ist eine davon.
Zur Alemannenschule Wutöschingen (ASW)
Die Alemannenschule im baden-württembergischen Wutöschingen, nahe der Schweizer Grenze, ist eine Gemeinschaftsschule, in der Schülerinnen und Schüler von Klasse 1 bis 13 lernen können. Schülerinnen und Schüler heißen an der ASW Lernpartner, die Lehrkräfte sind Lernbegleiter. Auch einen festen Stundenplan gibt es nicht mehr, sondern individuelle Lernpläne.
Zwischen Schule und Ort, der auch als Lerndorf bezeichnet wird, besteht eine enge Verbindung, die sich in zahlreichen Lernorten außerhalb des Schulgeländes, wie einem Bauernhof, dem Sitzungssaal des Rathauses oder Räumlichkeiten im Altenpflegeheim, zeigt. Die Schule setzt auf selbstorganisiertes, individuelles Lernen und kooperative Lernformen, wobei die Architektur der Schulgebäude perfekt auf das pädagogische Konzept ausgerichtet ist.
Unser Interviewpartner, Stefan Ruppaner, ist seit 2005 Rektor der Alemannenschule.
Lieber Herr Ruppaner, das pädagogische Konzept und das Raumkonzept sind an der Alemannenschule Wutöschingen eng miteinander verknüpft. Was unterscheidet das Raumkonzept von einer Schule, wie wir sie noch aus unserer Schulzeit kennen?
An unserer Schule erkennen Sie räumlich kaum noch etwas, das an eine Schule von damals erinnert. Wir haben keine Klassenräume mehr, wir haben zum Teil nicht mal mehr Gänge, weil diese mit in das Konzept einbezogen wurden. Was es noch gibt, sind Fachräume, z. B. für Chemie oder Musik und auch eine Sporthalle.
Die Kinder bewegen sich in Räumen. Vor Corona hatten wir sechs verschiedene Räume definiert:
- Der erste Raum ist das Lernatelier (im Bild oben zu sehen, Anm. d. Red.), das man sich wie ein Großraumbüro vorstellen kann, in dem die Lernpartner:innen und Lernbegleiter:innen eigene Plätze haben, an denen sie arbeiten können. Dort ist es immer ganz leise.
- Der Marktplatz, der zweite Raum, ist der kooperative Lernbereich, der mit passenden Möbeln, wie großen runden Tischen, Stehtischen oder Kissen, ausgestattet ist.
- Zum Teil in den kooperativen Lernbereich integriert oder auch abgetrennt davon, liegen die Inputräume. Dort dient als Medium meist nur noch ein Bildschirm an der Wand mit Lautsprechern, sodass etwas präsentiert und ein kurzer Input gegeben werden kann.
- Als vierten Bereich haben wir die sogenannten Clubräume. Diese liegen größtenteils außerhalb der Schule, z. B. im Rathaus, dem Probesaal des Musikvereins, auf dem Bauernhof, in Firmen, im Wald oder an der Wutach.
- Die Lebensräume für die Mittagsfreizeit und andere freie Zeiten sind der fünfte Bereich: Wir haben einen schönen Schulgarten und verschiedene Bereiche, in denen man sich bewegen oder auch chillen kann.
- Der sechste Bereich ist der digitale Lernraum. Wir haben die Lernplattform DiLer (Digitale Lernmgebung). Dort sind alle Lernmaterialien in sogenannten SoL-Paketen (Selbstorganisiertes Lernen) hinterlegt, und die Kinder finden hier alles, was sie brauchen. Sie können so selbstständig orts- und zeitunabhängig und in ihrem eigenen Tempo lernen. Wenn sie soweit sind, können sie über die Lernplattform einen Gelingensnachweis ablegen (Gelingensnachweise ersetzen an der Alemannenschule die eher negativ behafteten Begriffe „Test“ oder „Klassenarbeit“, Anm. d. Red.).
Auf DiLer laufen auch alle Kommunikationen zusammen, d. h., der Kontakt mit den Lernbegleiter/innen oder der Kontakt zwischen Eltern und Lernbegleiter:innen und der Schulleitung. Auch die Zeugnisse und Zertifikate sind hier hinterlegt. Zum digitalen Raum gehört auch, dass jeder ein iPad als Werkzeug zur Verfügung hat. Abgesehen von Atlanten oder Originalliteratur haben wir keine Schulbücher mehr – alles befindet sich als PDF auf den Tablets. - Seit Corona haben wir auch einen siebten Lernraum: den Lernraum zu Hause.
Digitale Bildung war an Ihrer Schule also auch bereits vor Corona ein wichtiger Bestandteil des Konzepts. Sind Sie dadurch besser durch die Pandemie gekommen als viele andere Schulen?
Das reine Lernen ist gar kein Thema. Das klappt ohne Weiteres von zu Hause aus. Aber wir haben das Konzept der „Schmetterlingspädagogik“ entwickelt: Auf der einen Flügelseite steht das selbstorganisierte Lernen, das abgekoppelt von Zeit und Raum möglich ist. Das funktioniert perfekt durch unsere Lernmaterialien, die im Materialnetzwerk auch für andere Schulen kostenlos bereitgestellt werden. Die andere Seite, das Lernen durch Erleben, ist an Zeit und Ort gebunden und fällt deshalb weg: Wir können nicht in den Wald gehen, keinen Bläserunterricht geben oder ein Musical einüben. Viele schöne Dinge sind im Moment einfach nicht möglich, was schulisch keine Dauerlösung sein kann.
Sie haben auch erwähnt, dass die Räume bei Ihnen nicht nur andere Funktionen haben, sondern teilweise auch anders ausgestattet sind als mit Tafel, Lehrerpult, Schülertischen und -stühlen.
Schülertisch und Schülerstuhl gibt es bei uns nicht mehr. An den Arbeitsbereichen im Lernatelier haben wir noch Stühle, aber das sind dann Gesundheitsstühle mit verstellbaren Lehnen. Wir haben Sofas, Bodenkissen, Bänke, Tiefsitzmöbel, Stehtische – optisch erinnert nur noch wenig an eine Schule.
Haben sich im Zuge des neuen Konzepts auch die Rollen der Lehrkräfte und der Schülerinnen und Schüler verändert?
Natürlich! Wenn neue Kinder und deren Eltern zu uns kommen, halte ich immer einen Vortrag, bei dem es vordergründig ums Essen, aber eigentlich ums Lernen geht: Die Lernbegleiter:innen sind dafür da, den Tisch ordentlich zu decken, für sauberes Besteck zu sorgen und dass die Atmosphäre am Tisch einladend ist. Wir richten das Buffet für alle her und können sagen, wie das Essen schmeckt, und beraten, welche Bestandteile wichtig sind, wie man sie gut kombiniert oder das Besteck benutzt.
Aber bei uns wird niemandem der Mund aufgehalten und das Schnitzel hineingesteckt. Unser Ziel ist, dass jeder gerne und freiwillig lernt. So viel, wie er kann. Wir achten sozusagen sehr auf die Tischregeln: Es gibt Graduierungen, die Kinder haben unterschiedliche Rechte und Freiheiten. Wer mehr Verantwortung übernimmt, hat mehr Freiheiten. Die größte Belohnung ist das Essen bzw. das Lernen. Und das läuft wirklich sehr gut.
Haben Sie Auswirkungen auf die Leistungen feststellen können?
Es gibt viele sehr gute Leistungen in Vergleichsarbeiten und bei Abschlussprüfungen.
Außerdem Kinder, die eine Klasse überspringen können, was eigentlich weniger unser Ziel ist. Wir wollen, dass die Kinder die Freiheiten, die sie durch das selbstorganisierte Lernen gewinnen, nutzen, um sich zu fragen, was ist mein Ding. Wir haben zum Beispiel einen Schüler, der in der U16 Nationalmannschaft gespielt hat und jetzt beim SC Freiburg ist, eine andere Schülerin ist in der Reit-Equipe. Sie können sich das selbstorganisierte Lernen so einteilen, dass sie diese Freiheiten bekommen.
Lieber Herr Ruppaner, ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch!
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Häufig gestellte Fragen zum Thema pädagogische (Raum-)konzepte
Was ist ein pädagogisches Raumkonzept?
Ein durchdachtes pädagogisches Raumkonzept ist auf die Anforderungen der Pädagogik und die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler ausgerichtet. Lernen, Leben, Entspannung, Bewegung, Kommunikation, Orientierung, Kreativität – all das und noch mehr soll ein pädagogisches Raumkonzept einer Schule ermöglichen. Der Raum unterstützt Lehrende und Lernende und ist auf sie ausgerichtet – nicht andersherum.
Was bedeutet der Raum als dritter Pädagoge?
Den Satz vom Raum als dritten Pädagogen prägte Loris Malaguzzi (1920 - 1994). Der erste Pädagoge waren für ihn andere Kinder, der zweite die Pädagoginnen und Pädagogen, der dritte der Raum. Dabei spielt nicht nur die Raumaufteilung und -funktion eine Rolle, sondern auch die farbliche Gestaltung, Materialien, die Einrichtung und welche Möglichkeiten zur Entfaltung die Räume den Kindern geben.
Was ist selbstorganisiertes Lernen?
Beim selbstorganisierten Lernen soll es den Schülerinnen und Schülern ermöglicht werden, das Lernen selbst mitzugestalten. Dies kann durch eine freie Wahl der Aufgaben, sowie wann und wo diese bearbeitet werden, geschehen. Selbstorganisiertes Lernen ist nur möglich, wenn die Lernenden mit den nötigen Kompetenzen ausgestattet sind und entsprechend konzipierte Lernmaterialien, in der Regel digital, vorhanden sind.
Was ist kooperatives Lernen?
Beim kooperativen Lernen arbeiten die Schülerinnen und Schüler gemeinsam in Gruppen. Um ein gutes Ergebnis zu erzielen, ist eine aufeinander abgestimmte Kommunikation und Zusammenarbeit nötig, wobei jeder seinen Teil dazu beitragen muss. Die Lernenden arbeiten dabei möglichst selbstständig. Die Lehrkräfte beraten und unterstützen, wenn nötig.
Was ist individualisiertes Lernen?
Individualisiertes Lernen bedeutet, dass die Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf ihren Wissensstand individuell gefördert werden. Anders als bei anderen Formen des binnendifferenzierten Unterrichts wird hier die Klasse nicht nur in verschiedene Leistungsgruppen unterteilt, sondern jeder Schüler/jede Schülerin individuell betrachtet.
Quellen
Römerstraße 41a
6230 Brixlegg/Tirol
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